Abschied ein Leben lang

In schwindelnder Höhe turnen Bauarbeiter auf einem Gerüst und fügen Eisenstange an Eisenstange. So entsteht eine wohl einmalige Konstruktion - die Nachbildung der Fassade der ehemaligen Synagoge des 8. Wiener Gemeindebezirks. "Ein Geschenk an uns 'Nachgeborene', denen in Familie und Schule der Zugang zum dunkelsten Kapitel österreichischer Geschichte oftmals verstellt wurde und zum Teil noch verstellt wird", nannten die InitiatorInnen das Gedenkprojekt "Verlorene Nachbarschaft", das im Herbst 1998, 60 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge, realisiert wurde. Gleichzeitig verband man damit auch die Hoffnung, "daß die, die zu uns kommen, ihre ehemalige Heimat nicht mehr nur aus der Sicht der Vertriebenen sehen müssen."

Drei dieser Vertriebenen holte die Filmemacherin Käthe Kratz, Mitinitiatorin des Projekts, vor die Kamera. Anne (Anny) Kelemen, Gerda Lederer und Curtis Brown (Kurt Braun) - alle drei leben jetzt in den USA - erzählen von ihrer damaligen Lebenssituation, von den Wohnverhältnissen, den Nachbarn, von der Rolle, die die Religion in ihrem Leben spielte, von der Zeit des Anschlusses, den Übergriffen auf ihre Familien, von Flucht und Exil. Aus dem unterschiedlichen Zugang der drei zur eigenen Geschichte sowie zu Wien ergibt sich auch ein differenziertes Bild jüdischen Lebens und Erlebens aus der Zeit vor und unmittelbar nach dem "Anschluß".

Die bewegenden, humorvollen, nie sentimentalen Erzählungen kombiniert Käthe Kratz mit Bildern vom Aufbau der Synagogenfassade, von Spaziergängen der drei Zeitzeugen durch die ehemalige Nachbarschaft, von Besuchen in den alten Wohnungen (oder was davon noch übrig ist), sowie mit Aufnahmen, die während der zahlreichen Veranstaltungen rund um das Projekt "Verlorene Nachbarschaft" entstanden. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, sodaß der Film den Verlust, den diese drei Personen erleiden mußten, auch als Verlust für die heutige Generation begreifen läßt.