Abendland

A / 2011 / Dokumentarfilm / 35 mm / 90 min

 

Manche Dinge sieht man in der Nacht klarer: Abendland von Nikolaus Geyrhalter, durchmisst in einer großen assoziativen Reise ein nächtliches Europa in vielen Facetten. Pulsierende Dienstleistungs- und Wohlstandsgesellschaft, Bollwerk der Sicherheit und Ausgrenzung, urbane Zivilisation, hedonistischer Vergnügungstempel, beflügelt und belastet zugleich von Geschichte, Tradition, Hochkultur. Nachtarbeit, Selbstvergessenheit, Lärm und Stille, Sprachverwirrung und Übersetzungsprobleme, erste Schritte ins Leben, Krankheit, Tod und verzweifelte Versuche, Grenzen zu überschreiten: All dies entfaltet sich durch Geyrhalters Kamera und in Wolfgang Widerhofers kongenialer Montage zu einem bildmächtigen Essayfilm über einen Kontinent und über das Prinzip „Abendland", von dem man manchmal den Eindruck gewinnt, es würde langsam veratmen.

„Einst in Europa": So betitelte vor zehn Jahren der Schriftsteller und Essayist John Berger eine (Foto-)Erzählung, in der sich unter anderem die Frage nach der „Ungerechtigkeit des Zufalls des Geborenwerdens" stellte. Nikolaus Geyrhalter und sein unverwandter Blick auf das „Jetzt" ebendieses ungerechten Europas mögen ähnliche Motive antreiben: Liebe zum Menschen, die gerade aus der Distanz an Kraft gewinnt. Manche Dinge sieht man in der Nacht klarer.
„Eigentlich muss es das Paradies sein: Ein Fleck auf der Erde reich an Ressourcen, klimatisch begünstigt und besiedelt von Menschen, die diese Geschenke geschickt zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Die Überzeugung, dass sich unter diesen Umständen eine überlegene Kulturform entwickeln muss, hat die Bewohner dieser Gegend lange beflügelt und hallt bis in die Gegenwart, und tatsächlich scheint das Leben auf diesem Stück Erde begehrenswert: Man lebt in Reichtum und Sicherheit, ist medizinisch gut versorgt und im Fall der Fälle auch sonst sozial abgesichert. Hier wird man nicht verhungern, nicht schon mit 40 Jahren sterben und muss gegenwärtig weder Krieg noch politische Verfolgung befürchten.
Dieses privilegierte Leben funktioniert nur auf dem Prinzip der Exklusivität, des Nicht-Teilens und Nicht-Teilhaben-Lassens, einfach schon deswegen, weil sich das ressourcenmäßig rein rechnerisch nicht ausgehen kann. Am Ende des Paradieses steht deshalb ein unüberwindbarer elektrischer Zaun. Wer im Paradies lebt, muss gut darauf aufpassen. Ein Film über Europa am Anfang des 21. Jahrhunderts." (Nikolaus Geyrhalter)